Städteschutz statt Alpentrutz

Bern, 17.08.2007 - Rede von Moritz Leuenberger beim SP-Städtegipfel, Basel, 18. August 2007

„Städtegipfel". Ist das nicht ein kleiner Widerspruch in sich? Eine Stadt auf einem Gipfel ist jedenfalls kaum vorstellbar, auch wenn Herzog & de Meuron auf der Schatzalp ein Hochhaus planen. Ein Hochhaus macht noch keine Stadt. Ich weiss, das Matterhorn als Signet für die heutige Veranstaltung soll ein symbolischer Gipfel sein. Aber ist nicht auch das typisch, dass ausgerechnet ein Berggipfel das Symbol für höchstes erreichbares Glück, die Kulmination aller denkbaren Masse ist? „Städtegipfel", das tönt eben doch erhabener als „Agglotreffen".

Das Alpenglühen ist nicht zufällig Bestandteil unserer Nationalhymne und damit unseres nationalen Selbstverständnisses: „Wenn der Alpen Firn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet!" Nichts von Städten. Dafür prangt in Anlehnung an das Berglied  „Im Frühtau zu Berge" am Schöneichtunnel in Zürich, den die ganze Schweiz wegen der täglichen Staumeldungen kennt, seit Jahren die Inschrift von Sprayern: „Im Frühstau zur Arbeit, wir stehn, fallera.". Selbst im täglichen Stau werden die Städter noch mit einem ländlichen Idyll verspottet. Der Mythos der Berge fehlt den Städten.

Umso grösser ist die Sehnsucht der Städterinnen und Städter nach der heilen Alpenwelt - und damit auch ihre Solidarität: Bei Abstimmungen sind es jeweils die Städter, welche sich am feurigsten für den Schutz der Landschaft einsetzen, für die Moorschutzinitiative oder für die Alpeninitiative. Diese schützt Menschen, Tiere und Pflanzen im Alpengebiet vor negativen Auswirkungen des Verkehrs. Als ob in den städtischen Agglomerationen nicht auch Menschen an Strassen wohnen müssten - nur haben sie keine Berge, in welche sie Tunnel graben könnten, um den Verkehr zu verbergen. Es gibt keine entsprechende Verfassungsbestimmungen für Städte oder Agglomerationen, obwohl es auch dort Transitverkehr gibt und die Anzahl der Fahrzeuge durch Schwamendingen um ein vielfaches grösser ist als diejenigen, die den Gotthard passieren.

Die ländliche Schweiz als Mythos

Drei von vier Schweizerinnen und Schweizern leben in städtischen Gebieten. Trotzdem assoziieren sie mit der „schönen" Schweiz grüne Wiesen, blaue Seen, gelbe Postautos und weisse Berge, nicht Trams, Strassenkaffees oder Einkaufsläden. Und so rühmen sich viele Menschen glücklich, „auf dem Land zu leben" - auch dann, wenn ihr Haus zwischen Autobahnen, unter einer Flugschneise und neben einer Starkstromleitung liegt.

Unsere Vorstellungen, was Stadt und was im Gegensatz dazu Land ist, sind noch heute von Johanna Spyri geprägt. Wir glauben an eine ländliche Idylle, obwohl die Alpaufzüge heute in Lastwagen stattfinden, das Heidiland eine Autobahnraststätte im Rheintal ist - bestenfalls noch ein Musical. Das einst vom Aussterben bedrohte Edelweiss ziert heute den Himmel, es ist eine Charter-Fluggesellschaft geworden, und das Matterhorn hat es auch zu etwas gebracht, es ist das Logo der SP im Wahljahr.

Wir setzen uns alle mit Nachdruck für eine nachhaltige Entwicklung unseres Landes ein. Wir verteidigen die Alpenkonvention, wir wollen nachhaltigen Tourismus, wir treiben die Verlagerungspolitik voran, die Biodiversität, den Klimaschutz. Vergessen wir nicht, dass das Gebot der Nachhaltigkeit für alle Gebiete gilt, auch für die Städte.

Nachhaltigkeit heisst, ein Gleichgewicht zwischen divergierenden Interessen anzustreben. Wenn wir das Gleichgewicht zwischen den Landesteilen der Schweiz wahren wollen, sprechen wir von Kohäsion. Heute sind die Städte so stark belastet, dass die Kohäsion und damit das Gleichgewicht zwischen Stadt und Land nicht mehr gewährleistet sind. Darum braucht es eine nachhaltige Stadtpolitik. Die Lebensqualität in den Städten ist die Grundvoraussetzung für ihre wirtschaftliche Entwicklung und für die Prosperität der ganzen Schweiz.

Lebensqualität der Städte

1.      Sozialer Ausgleich

Vielleicht gründet der Traum vom Land auch in unserer Sehnsucht nach unkomplizierten sozialen Beziehungen, direkter Nachbarschaftshilfe und Anteilnahme.

  • Dass dies in den Städten um einiges anspruchsvoller ist, liegt aber oft gerade darin, dass die schwierigeren Fälle den Städten überlassen werden. Ich erinnere mich an die Festschrift einer Zürcher Landsgemeinde, die sich dafür lobte, kein Drogenproblem zu kennen und wörtlich festhielt: „Die einzigen beiden Drogenabhängigen unserer Gemeinde leben heute in Zürich." Es gibt Gemeinden, die bewusst keine Drogenanlaufstelle schaffen, wohl wissend, dass die Abhängigen dann in die nächste grössere Stadt gehen. Und natürlich gibt es auch Menschen, die der sozialen Kontrolle auf dem Land entfliehen und in der anonymeren und toleranteren Stadt untertauchen.
  • Dies führt dazu, dass die Sozialpolitik in der Stadt zwangsläufig systematisch und das heisst auch schematisch organisiert werden muss. Dies erfolgt auch wieder nach den Regeln des sozialen Ausgleichs, bedeutet also einen Ausgleich unter den Quartieren, so dass nicht einzelne Gebiete verslumen.
  • Diese Arbeit heisst Integrationspolitik. Sie vermeidet eine Ausgrenzung, und dies ist auch der effizienteste Beitrag zur Sicherheit. Diese schaffen wir nicht, wenn wir kurzerhand einen Viertel der Schweizer Schafe als schwarz bezeichnen und sie mit Fusstritten von unserem Schweizerkreuz wegtreten.
  • Mit ihren Infrastrukturen, mit ihrer Siedlungspolitik, mit der Schulpolitik, der Sozialpolitik übernehmen die Städte eine nationale Aufgabe und haben deswegen auch das Anrecht, dass ihnen dabei geholfen wird. Städte brauchen Unterstützung - auch finanzielle - aus der Agglomeration, beispielsweise für die zugewanderten Sozialfälle, und sie brauchen Unterstützung durch den Bund, beispielsweise, indem er den sozialen Wohnungsbau unterstützt.

2.      Kulturelle Dimension

Zur Lebensqualität der Städte gehört die kulturelle Dimension. Tatsächlich bietet die Stadt ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einen riesigen Reichtum. Schon im Mittelalter galt „Stadtluft macht frei". Die Stadt ist Inbegriff der Freiheit geblieben: Städter lustwandeln täglich in einem Paradies voller Unterhaltung, Einkaufsmöglichkeiten, kulturellen Angeboten und Lebensstilen.

Diese unendliche Fülle hat auch ihre Kehrseite, nämlich die Überflutung. So, wie sich Städte heute nicht mehr widerstandslos vom Verkehr platt walzen lassen, so müssten sie sich eigentlich auch vor Verlärmung und Verramschung zu schützen beginnen.

Als Folge des globalen Massentourismus fallen Horden von Menschen in die Innenstädte ein. Es ist durchaus verständlich, wenn aus ästhetischen Gründen fast in allen Schweizerstädten die Monoblockstühle aus Plastik zur Diskussion gestellt werden, auch wenn das wieder die Frage aufwirft, ob denn Schönheit wirklich verordnet werden soll. So wie es auch die Diskussionen gibt, ob Strassenmusikanten rund um die Uhr reglementiert werden sollen oder nicht. Aber wenn Strassenmusikanten rund um die Uhr „El Condor pasa" singen, ist das für die, welche in einer Stadt wohnen nach einigen Stunden nicht mehr so unterhaltsam.

Der neue Bundesplatz in Bern wird regelmässig mit Ständen, Zelten und Tribünen für irgendeine „Promotion" oder „Show" überstellt: Rivella-Erlebniszelt, Volleyballturnier mit künstlichem Sandboden, Skilanglauf mit heran gekarrtem Schnee. Ist das Lebensqualität?

Nach der Street Parade gleicht die Urania-Strasse in Zürich eher einer Urin-Strasse. Ähnliches erlebt Biel nach der Braderie, Bern nach dem Zybele-Märit, Winterthur nach dem Albanifest.

Ich frage mich manchmal: Muss denn jedes Wochenende ein Event in einer Stadt organisiert werden? Kann ein Platz nicht auch einmal ohne elektronische Musik genossen werden? Könnte man nicht gelegentlich den flat place einführen?

3.      Umweltverträglichkeit

Hauptsächlich sind die Städte mit dem Verkehr konfrontiert. Ich habe ganz bewusst viele Interviews zum Alpentransit auf der Rosengartenbrücke an der Zürcher Westtangente gegeben, damit man sieht, wie viel Verkehr sich durch einzelne Stadtquartiere zwängt.

Mit dem Verkehr, der sich tagtäglich in die Städte hinein ergiesst, werden die Menschen in den Städten mit Russpartikeln, bodennahem Ozon und Lärm geplagt. Städte planen und bauen deswegen Umfahrungen, Parkhäuser und Tramlinien - und sind bei deren Finanzierung oft vom Wohlwollen des Landes abhängig. Die Waadtländer Bevölkerung hat seinerzeit Ja gesagt zur M2 in Lausanne, beim Tram Bern West hingegen musste die Stadt Bern das Land zwei Mal bitten.

Wir zahlen heute teuer für die Wiedergutmachung der Euphorie in den 70er Jahren, als man glaubte, die Städte mit Autobahnen beglücken zu müssen. Jetzt wird der Autobahnabschnitt in Schwamendingen eingehaust. Doch um die Verkehrsprobleme der Städte lösen zu können, braucht es neue Instrumente:

  • Road pricing: Der Vorschlag ist von Städten eingebracht worden, die beim Lösen ihrer Verkehrsprobleme neue Wege gehen wollen. Städte sind Zonen, in denen immer wieder Experimente stattfinden, von hier kommen gute, innovative Ideen, von denen sich gelegentlich auch der Bundesrat überzeugen lässt. Wir sind jedenfalls zurzeit daran, eine gesetzliche Grundlage vorzubereiten, damit Versuche mit Road pricing stattfinden können. Aber der Bund wird niemals Road pricing gegen den Willen einer Gemeinde einführen. Die Autonomie der Städte bleibt gewahrt.
  • Ergänzend dazu bauen Städte die Infrastrukturen für den Langsamverkehr aus: Begegnungsstrassen, Radwege, Fussgängerzonen, etc
  • Dank dem Infrastrukturfonds können wir mit Treibstoffgeldern neu auch den öffentlichen Verkehr weiter entwickeln. Davon profitieren auch die Menschen in den Städten. Und davon profitiert ebenfalls das städtische Umland. Mit dem Infrastrukturfonds haben wir zum ersten Mal ein Instrument, welches eine Planung über die Gemeindegrenzen hinaus möglich macht. „Stadt" heisst zukünftig immer seltener die Kernstadt, sondern ein Gefüge von urbanen Siedlungen, die sich um einen historischen Kern herum gruppieren. In diesem Sinne müssen alle Bereiche, also Kultur, Gesundheit und Siedlungspolitik, über historische Gemeindegrenzen hinaus geplant werden. Ein Agglomerationsrat mit gewählten Vertretern aus den Gemeinden könnte die politische Ebene gegenüber den administrativen Stäben bilden. Sein Präsident könnte über die Grenzen von allen Gemeinden hinweg gewählt werden.

Politische Innovationen aus den Städten gibt es in vielen Lebensbereichen, nicht nur im Verkehr. Es gibt vorbildliche Energiestädte, mit einer nachhaltigen Energiepolitik, sie haben früher als anderswo Ideen entwickelt, wie Energie gespart kann, wie alternative Energien eingesetzt und gefördert werden können und sie setzen diese Ideen auch um.

Viele derartige innovative Ideen der Städte stossen auf das Unverständnis der Kantone oder des Bundes. Wir haben das besonders bei der Drogenpolitik erlebt. In einer Stadt zeigen sich viele Probleme anders als in einem Dorf. Städte möchten beispielsweise, dass Asylsuchende arbeiten dürften, weil es bei ihnen genug Arbeit gibt, die erledigt werden müsste. Natürlich kann dies keine nationale Regelung sein, aber dass Städte in diesem Bereich der Asylpolitik mehr Spielraum fordern, ist nachvollziehbar. Die Gemeindeautonomie ist eine tragende Säule unseres föderalistischen Staatsverständnisses. Dazu gehört aber auch, dass diese Autonomie stets neu interpretiert und definiert werden soll. Die Städte sollen in bestimmten Bereichen eine differenziertere Politik experimentell erproben dürfen und sie benötigen dazu die notwendige Autonomie.

SP heisst auch Städte-Partei

Damit Städte ihre Interessen schützen können, müssen sie sich untereinander vernetzen und ihre Anliegen gemeinsam und einstimmig vortragen. Wir haben vorhin drei Vorschläge diskutiert. Wie man seine Interessen wahrt, führen uns seit Jahrzehnten und bei jeder Diskussion um Wasserkraft oder Ausgleichzahlungen die Bergkantone vor. Noch ist die Städte-Lobby nicht ganz so tüchtig wie die Alpen-OPEC.

Wie Städte eine einflussreiche Allianz bilden könnten, demonstrieren wir uns heute gerade selber vor. Schauen wir uns um: Beinahe alle Stadtpräsidenten der Schweiz befinden sich an diesem Parteigipfel. Die fünf grössten Schweizer Städte werden von rot-grünen Koalitionen regiert und das ist kein Zufall:

  • Die SP hat sich immer für die Lösung von typisch städtischen Problemen eingesetzt. Zum Beispiel für alleinerziehende und für berufstätige Mütter, für Blockzeiten, für Tagesschulen und Krippenplätze. Sie schuf Anlauf- und Beratungsdienste
  • Die SP hat sich immer für Integration eingesetzt.
  • Die SP hat sich immer wieder für eine Durchmischung eingesetzt: Wohnen, Arbeit, Freizeit und Kultur sollen am gleichen Ort stattfinden, es soll keine unbelebten Arbeits-Gettos geben und auch keine Reichen- oder Armen-Quartiere.
  • Die SP hat schon immer den sozialen Wohnungsbau gefördert, heute setzt sie sich für verdichtete und energieeffiziente Wohnstrukturen ein.
  • Die SP ist seit 50 Jahren Vorreiterin für den öffentlichen Verkehr, für autofreie Zonen und Velowege.
  • Die SP stemmt sich gegen die Spirale des Steuerwettbewerbs - zur Recht, die Städte würden sonst ausgehungert.
  • Sie kümmert sich auch um Menschen mit den gebrochenen Lebensläufen. Nicht nur um die Gipfelstürmer.

Ist „Städtegipfel" jetzt eigentlich ein Widerspruch in sich selber?

Er ist es nicht, wenn wir unsere Vorstellungen von Nachhaltigkeit in den Alpen und den hehren Berge auch für die Städte denken und sie dort umsetzen, und im Gegenzug, wenn sich unsere Vorstellungen von Solidarität und von Offenheit gegenüber Neuem und Andersartigen auch auf dem Land durchzusetzen beginnen.

Es genügt nicht, wie in der Nationalhymne, nur den sich rötenden Alpenfirn anzuhimmeln. Die Schönheit, der soziale Frieden, Prosperität und Umweltverträglichkeit sind Werte für unser ganzes Land. Nicht nur die Alpen sollen sich röten, sondern das ganze Land. Für diesen Herbst gilt deshalb:

„Wählet, freie Schweizer, wählet! - Auf dass das ganze Land sich rötet!"


Adresse für Rückfragen

Presse- und Informationsdienst UVEK, Bundeshaus Nord, 3003 Bern +41.31.322.55.11


Herausgeber

Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
https://www.uvek.admin.ch/uvek/de/home.html

Letzte Änderung 14.02.2019

Zum Seitenanfang

Kontakt

Kommunikationsdienst GS-WBF

Bundeshaus Ost
3003 Bern
Schweiz

Tel.
+41584622007

E-Mail

Kontaktinformationen drucken

https://www.wbf.admin.ch/content/wbf/de/home/dokumentation/nsb-news_list.msg-id-14093.html